Grundgesetzreform jetzt

Die Ausgangssituation

In den letzten Jahrzehnten ist es nicht gelungen, den Raubbau an den ökologischen Ressourcen zu stoppen. Die planetaren Grenzen, wie sie das Stockholm Resilience-Center publizierte, zeigen eindrücklich, wo die großen Herausforderungen liegen. Bedroht ist die funktionale Vielfalt aller terrestrischen und aquatischen Ökosysteme, indem die Landschaftsräume, Wälder, Steppen und Moore, aber auch die Ozeane durch Übernutzungen – Abholzung, industrielle Landwirtschaft, Überweidung, Überfischung und Vermüllung – aus ihrem Gleichgewicht gestoßen und zerstört werden. Und es sind die biogeochemischen Einträge in Flüsse, allen voran Nitrat und Phosphor, die auf Böden, Gewässer und alle Lebensprozesse einwirken, die Nahrungsketten und so die Ökosysteme schwächen. Die massiven ökologischen Effekte unserer Aktivitäten haben einen globalen Wandel ausgelöst, der als enorme, insbesondere zivilisatorische Herausforderung eine lebenserhaltende und - stärkende Kultivierung unserer gemeinsamen Zukunft einfordert. Der Klimawandel ist Teil dieser planetaren Umgestaltung zuungunsten des Homo sapiens und von Flora und Fauna. Aber die menschlichen Aktivitäten und ihre Wirkungen verändern auch unter geologischen Betrachtungen den Erdhaushalt klimaökologisch, stofflich, landschaftlich und geochemisch so dominant und prägen die landschaftliche Formgebung so einschneidend, dass sie sich langfristig in den Sedimentierungen der letzten Jahrhunderte nachweisen lassen. Der Atmosphärenchemiker und Nobelpreisträger Paul Crutzen benannte deshalb 2002 in seinem Aufsatz „Geology of Mankind“ im Wissenschaftsmagazin „Nature“ das erste Mal diesen Zusammenhang als einen eigenen geochronologischen Abschnitt: Anthropozän.

Überschreitung planetarer Belastungsgrenzen

Die Ursachen dieser Vernichtung der ökologischen Lebensgrundlagen gehen in der Regel auf wirtschaftliche Aktivitäten zurück, die von nationalen Interessen und unternehmerischen Gewinnerwartungen getrieben sind. Diese Interessen werden durch einen rechtlichen Rahmen geschützt und im Abgleich staatlicher, regionaler und multilateraler Übereinkünfte durchgesetzt. Diese Kräfte und ihre Lobbys sind immer wieder übermächtig.
In der Abwägung mit menschenbezogenen und wirtschaftlichen Interessen unterliegen die Interessen von Fauna, Flora und Biotopen regelmäßig vor Gericht. Dies ist der Ausdruck eines Denkens, in dem sich der Mensch als ein privilegiertes Lebewesen begreift, das außerhalb der Natur steht. Dieses Denken hat eine gesellschaftliche Praxis hervorgerufen, die die planetaren Belastungsgrenzen überschreitet.

Tiere als Mitgeschöpfe

Gelingt es nicht, diese Entwicklung zu stoppen und umzukehren, drohen noch mehr irreversible und verheerende Folgen für Menschen, Fauna, Flora und alle Ökosysteme (z.B. Meere, Regenwälder). Wissenschaftler der Intergovernmental Science-Policy Platform on Biodiversity and Ecosystem Services (IPBES) haben darauf hingewiesen, dass die Naturzerstörung durch den Menschen und die Bedrohung der Artenvielfalt auch die Übertragung von Infektionskrankheiten auf den Menschen wahrscheinlicher machen. Der alle vom Tier auf den Menschen übergesprungen. Wo es an Naturschutz und Artenschutz fehlt, steigt das Risiko für zukünftige Pandemien weltweit.
Es ist nun an uns, die Natur mit ihren Pflanzen und Tieren besser zu schützen. Dies gilt sowohl für wildlebende als auch landwirtschaftlich genutzte Arten. Insbesondere letztere bedürfen eines wesentlich verbesserten Schutzes. So werden Rinder, Schweine und Hühner vom Tierschutzrecht, das vor allem ein Tiernutzungsrecht ist, nicht vor Leiden, Schmerzen und Qualen geschützt. Ihre kreatürliche Würde wird bewusst missachtet.
Das Netzwerk für die Rechte der Natur hält es für richtig und erforderlich, dass unsere Gesellschaft dazu übergeht, Pflanzen und Tiere als Mitgeschöpfe wahrzunehmen und nicht als Objekte und untergeordnete Wesen. Dies macht früher oder später auch die Anerkennung von Grundrechten für Pflanzen und Tiere erforderlich, soweit diese auf sie anwendbar sind.

Ökologisierung des Rechts

Um diese Fehlentwicklungen und Exzesse der Unmenschlichkeit und des Unrechts an Tieren zu stoppen und umzukehren, brauchen wir eine Ökologisierung unseres Rechts und die Anerkennung des Rechtes der Natur auf Leben und Entwicklung.
Eine solche Weiterentwicklung unseres Rechts liegt auch im Interesse des Menschen. Wir können die Existenz des Menschen, seine Würde und seine Grundrechte auf Dauer besonders wirksam schützen, indem wir Rechte der Natur etablieren und durchsetzen. Die Rechte der Natur auf Leben und Entwicklungen müssen deshalb in jeglicher Gesetzgebung und in allen juristischen Abwägungsprozessen hoch gewichtet und effektiv durchgesetzt werden.
Die Natur als Rechtssubjekt anzuerkennen bedeutet, den Radius der Rechtsträgerschaft von menschlichen Personen und rechtsfähigen Gesellschaften (z.B. Aktiengesellschaften) auf Flora und Fauna, Gewässer, Landschaften und die Atmosphäre auszuweiten. Wir, das Netzwerk für die Rechte der Natur, schlagen vor, sie als nichtmenschliche Rechtssubjekte anzuerkennen und unser Rechtssystem zu einem ökologischen Rechtssystem weiterzuentwickeln.

Rechte der Natur – Voraussetzung für Freiheit

Unser westliches Freiheitsverständnis hat in der Vergangenheit die Autonomie des Menschen gegenüber der Gesellschaft und der Natur betont. Natur bleibt das Andere. Inzwischen setzt sich aber immer mehr die Erkenntnis durch, dass Leben in all seinen Formen und ökologischen Zusammenhängen eine conditio sine qua non menschlicher Freiheit ist. Wenn Naturausbeutung zur Naturzerstörung wird, verschwindet die Freiheit und ihre Ausübung führt zur Selbstvernichtung. Dieses Szenario ist heute weltweit und vor allem für arme, junge und noch nicht geborene Menschen sehr wahrscheinlich geworden.
Das hat auch das Bundesverfassungsgerichtsurteil vom 24.03.2021, Az. 1 BvR 2656/18 erkannt. Es weist den Weg in eine Ökologiegebundenheit der Freiheitsrechte. Denn es anerkennt effektiven Klimaschutz als Voraussetzung zur Sicherung der Freiheitsrechte künftiger Generationen. So wie die Ausübung individueller Freiheitsrechte nur im Rahmen gleicher Rechte aller Menschen möglich ist, muss sie in Zukunft auch im Rahmen der Rechte der natürlichen Mitwelt vollzogen werden.

Freiheitsbegriffes, der die objektiv bestehende ökologische Eingebundenheit des Menschen berücksichtigt. Rechtspraktisch bedeutet dies, dass es fortan kein Recht auf Naturausbeutung mehr geben kann, sondern „nur“ ein Recht auf ökologisch nachhaltige Nutzung. Es geht darum, Natur als Grundbedingung unserer Existenz und Prosperität zu bewahren und ihre Rechte als Grundlage kollektiver und individueller Freiheitsrechte anzuerkennen.

Die Natur als Rechtssubjekt anzuerkennen ist möglich

Das Recht regelt die Beziehungen zwischen Personen und zwischen Personen und Dingen. Unser Recht ist nicht nur ein Normenwerk. Es ist auch ein zivilgesellschaftlicher Prozess, der von Legislative, Exekutive und Judikative kontinuierlich weiterentwickelt wird. Bisher werden im deutschen und europäischen Recht keine subjektiven Eigenrechte der Natur anerkannt, die durch menschliche Stellvertreter vor Gericht eingeklagt werden können. Die Natur kann bislang besessen, benutzt, zerstört werden. Subjektive Rechte werden zurzeit neben Menschen u.a. auch juristischen Personen (siehe S. 1) (z.B. GmbH, Aktiengesellschaften, Genossenschaften) gewährt. Im Gegensatz zur Natur können diese ihre Rechte einklagen und ggf. durchsetzen.
Die Verbandsklagerechte im deutschen Tier- und Naturschutzrecht reichen nicht aus. Sie betreffen nur wenige Sonderfälle und gehen nicht weit genug, zumal sie der zu schützenden Natur keine subjektiven Rechte zugestehen und es außerdem keine Schutzpflichten gibt, die sich aus Schutzrechten ableiten lassen.
Für unser Rechtssystem ist die Anerkennung der Natur als Rechtssubjekt problemlos möglich. Man muss keine menschliche Person sein, um Trägerin oder Träger von Rechten zu werden. Die Hindernisse liegen auf der politischen Ebene oder sie beruhen auf Missverständnissen und Unkenntnis. Zivilisationsgeschichtlich haben wichtige ethische Diskurse zur Formulierung von Rechten geführt. Im Verlauf hat sich der Kreis der Rechtssubjekte ständig vergrößert (z.B. waren ursprünglich Sklaven und Frauen ausgeschlossen). Auch Kinder und Unmündige stehen nicht nur unter dem Schutz des Gesetzes, sie haben Rechte, die sich einklagen lassen. Inzwischen gibt es eine Vielzahl nichtmenschlicher Rechtssubjekte, z. B. Unternehmen und Organisationen. Es gibt also keinen Grund, daran zu zweifeln, dass es rechtstechnisch möglich ist und Sinn ergibt, Rechte der Natur einzuführen und so die Rechtsposition der Natur zu stärken.

Die Diskussion um Eigenrechte der Natur, die nicht erst seit Christopher D. Stone`s „Should Trees Have Standing“ und der sog. Robbenklage geführt wird, hat in jüngster Vergangenheit Auftrieb bekommen. Immer öfter schließen sich weltweit Gerichte der Argumentation von Stone an: Wenn sogar Gesellschaften Rechte haben, muss dies auch für einzelne Naturobjekte wie etwa Flüsse gelten,  Seit 2008 werden die Rechte der Natur in Ecuador auf Verfassungsebene garantiert. Die Gletscher Gangotri und Yamunotri in Indien sind seit 2017 genauso wie der Whanganui- Fluss in Neuseeland eigenständige Träger von subjektiven Rechten. Immer häufiger werden die Rechte der Natur auch in der Gesetzgebung und von Gerichten zur Anwendung gebracht.

Die meistgenannten Argumente gegen Rechte der Natur sind unberechtigt oder beruhen auf Missverständnissen.
Gegen „Rechte der Natur“ wird häufig argumentiert, dass

  1. die Natur sich selbst nicht erklären und verteidigen könne, weil sie nicht sprechfähig sei oder
  2. wir nicht wissen können, was die Natur will.

Zu 1) ist zu sagen, dass dies auch für GmbHs oder Körperschaften öffentlichen Rechts (= juristische Personen) gilt. Auch sie erscheinen nicht vor Gericht. Ihre Interessen werden - genau wie jene von Kindern oder Menschen, die unmündig sind - von Vertretern oder Vertreterinnen auch vor Gericht geltend gemacht. Wir selbst brauchen in der Regel auch einen Rechtsanwalt oder eine Rechtsanwältin.
Zu 2) ist hervorzuheben, dass die Ökosystemforschung und die Verhaltensforschung einschätzen können, was die artspezifischen Bedürfnisse von Tieren sind und unter welchen Bedingungen Tiere, Pflanzen und Ökosysteme sich erhalten und weiter entwickeln können.

Die Anerkennung der Rechte der Natur würde nicht dazu führen, dass jegliche Naturnutzung unmöglich wird. Die Gerichte nehmen immer eine Abwägung aller widerstreitenden Interessen vor.

Rechte der Natur: Schon lange eine weltweite Bewegung

Die Bewegung für Rechte der Natur ist weltweit und auf allen Ebenen aktiv. Und sie hat bereits viele Erfolge erzielt:

  • International: Die Rechte der Natur sind immer wieder Beratungsgegenstand des UNO-Dialoges über die Harmony with Nature Resolution8 und der Programme der Internationalen Naturschutzorganisation (IUCN).
  • Europäisch: Das European Economic and Social Committee hat jüngst eine Studie veröffentlicht, die eine EU-Grundrechtscharta für die Rechte der Natur fordert und ausführlich begründet.
    National: Die Rechte der Natur sind bereits in einigen Rechtsordnungen festgeschrieben worden. In Ecuador sind sie Bestandteil der Verfassung, in Bolivien Gegenstand einzelgesetzlicher Regelungen. Und es gibt eine wachsende Zahl parlamentarischer Initiativen (u.a. in Schweden, in der Schweiz und in Frankreich). Flüsse und Landschaften wurden von Gerichten als Rechtspersönlichkeiten anerkannt, ebenso wie die Rechte von Tieren. Die Partei der Grünen in den Niederlanden hat die Forderung nach Eigenrechten der Natur in ihr Programm aufgenommen. Und erst jüngst hat sich eine überparteiliche Koalition von Nationalräten der Schweiz für die Verankerung der Rechte der Natur in der Schweizer Bundesverfassung ausgesprochen.
  • Lokal: Eine Vielzahl von Kommunen hat die Rechte der Natur in ihren Kommunalverfassungen festgeschrieben, vor allem in den USA. In Mexiko-Stadt wurden die Rechte der Natur in der Kommunalverfassung anerkannt.
  • Zivilgesellschaftlich: Auch in der Zivilgesellschaft wächst die Bewegung für Rechte der Natur. Es gibt eine Vielzahl umweltjuristischer Vereinigungen, wie z.B. die Ecological Law and Governance Association, Global Alliance for Rights of Nature, Earth Law Alliance, Earth Justice, IUCN World Commission on Environmental Law und juristische Fachleute, die den Kampf für die Rechte der Natur weltweit unterstützen. Auch zahlreiche indigene Völker setzen sich für Rechte der Natur und damit für den Schutz ihrer Lebensgrundlage (Wälder, Flüsse, Seen u.a.) ein.

Was ändert sich, wenn die Rechte der Natur anerkannt werden?

Das Naturschutzrecht würde sich entscheidend ändern; denn § 1 BNatschG wird bisher so ausgelegt, dass die Natur nicht rechtsfähig ist. Der Artenschutz ist in den Bestimmungen der §§ 39ff – Allgemeiner Artenschutz- bzw. 44 ff -Besonderer Artenschutz BNatschG geregelt.
Von welch grundlegender Bedeutung solch neues Denken ist, darauf hat auch die kürzlich im Auftrag der ‚Beobachtungsstelle für nachhaltige Entwicklung’ des Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschusses in ihrer Studie Towards an EU Charter of the Fundamental Rights of Nature aufmerksam gemacht. Unser heutiges Umweltrecht ist nicht in der Lage, die grundlegend neuen Beziehungen zwischen Menschen und Natur zu gestalten, die das Anthropozän erfordert. Es vermag nur punktuell zu reagieren.
Deshalb brauchen wir diesen Paradigmenwechsel: Ein Recht, das anerkennt, dass der Mensch Teil des Systems Natur ist und seine Existenz und sein Gedeihen auf die lebensförderlichen Beziehungen zwischen ihm und der Natur und all ihren Teilsystemen angewiesen ist.
In Ecuador ist zu beobachten, dass sich Umweltbewegungen und indigene Völker durch die Rechte der Natur ermächtigt sehen, diese nicht nur gerichtlich, sondern auch als Werkzeug im öffentlichen Diskurs zu nutzen. Ende des letzten Jahres hat das ecuadorianische Verfassungsgericht mit seinen Urteilen zum Fall Los Cedros und zur Klage der der A'i Kofán-Gemeinschaft bewiesen, dass es einen Unterschied macht, ob die Rechte der Natur garantiert sind oder nicht. Den klagenden Bergbaukonzernen wurde - trotz der bereits erteilten Genehmigungen - jeder Eingriff in das ökologisch sensible Gebiet untersagt.
Weitere, wichtige Grundsatzverfahren sind anhängig. In Ecuador hat sich gezeigt, dass es Zeit braucht, bis dieser juristische Paradigmenwechsel von allen verstanden wird und sich in der Praxis der Rechtsprechung auf allen Ebenen durchsetzt.

Unsere Beziehung zur Natur

Die Anerkennung der Rechte der Natur ist mehr als ein ergänzter oder neuer Gesetzestext. Die Auseinandersetzung um die Rechte der Natur zwingt uns alle, unsere Beziehung zur Natur und die Wahrnehmung der Natur zu überdenken, sie neu zu verstehen und sie angemessen mit Leben zu erfüllen. Wir, das Netzwerk Rechte der Natur, erkennen an, dass wir Teil der Natur sind und die Lebensfähigkeit der Natur eine notwendige Voraussetzung für ein menschenwürdiges Leben ist.
Mit der Anerkennung der Rechte der Natur ist ein neues Denken verbunden, das in vielen indigenen Kulturen bereits vorhandenes ist.