Gerechtigkeit für Thiere
Im Jahr 1457 wurden in Savigny, im Herzogtum Burgund, eine Muttersau und ihre Ferkel beschuldigt, ein fünfjähriges Kind getötet zu haben. Der Besitzer wurde freigesprochen. Die Muttersau hingegen wurde zum Tode durch Erhängen verurteilt. Die Ferkel durften den Gerichtssaal ohne Strafandrohung verlassen, da niemand beweisen konnte, dass sie an dem Mord beteiligt waren.
Die Verhandlungen folgten den gleichen gerichtlichen Ritualen wie Prozesse gegen Menschen. Tiere wurden in solchen Verfahren als Wesen mit Bewusstsein verstanden. Man ging davon aus, dass sie über einen eigenen Willen verfügten, Verantwortung für ihr Handeln trugen und in der Lage waren, ein Urteil zu verstehen.
Auch wenn uns diese Vorstellung heute seltsam erscheint, zeigt sie doch, dass Tiere nicht immer als bloße Sachen betrachtet und behandelt wurden. Vielmehr galten sie als fühlende Wesen mit Verstand und Absichten. Man sprach ihnen Pflichten gegenüber der Gesellschaft zu und gewährte ihnen das Recht auf einen fairen Prozess.
Der französische Soziologe Laurent Litzenburger hat über diese Tierprozesse in der Zeitung Le Monde Diplomatique berichtet. Er fand nicht nur Belege für Gerichtsverfahren gegen Schweine, sondern auch gegen Insekten und Nagetiere, die Schaden verursacht hatten. Auch wenn Litzenburger und seine Kolleginnen und Kollegen diese Prozesse als Ausdruck der göttlich legitimierten Herrschaft des Menschen über die Natur interpretieren, dokumentieren sie gleichzeitig ein anderes Naturverständnis. In diesem Verständnis sind Tiere Mitgeschöpfe, mit denen der Mensch auf Augenhöhe kommunizieren kann.
Im Zuge der Aufklärung und der zunehmenden Wissenschaftsgläubigkeit ging diese Haltung verloren. Aus Sicht des sogenannten „Herrschers über die Natur“ wurden alle Lebewesen zu einer verfügbaren Ressource. Sogar Menschen, die sich äußerlich vom weißen europäischen Mann unterschieden, wurden entrechtet und wie Vieh behandelt. Die Grausamkeiten, die daraus folgten, gingen vielen religiösen Menschen zu weit.
Wilhelm Dietler, Professor für Logik und Metaphysik, appellierte im Jahr 1787 mit seinem Werk „Gerechtigkeit gegen Thiere“ eindringlich an das Gewissen seiner Zeitgenossen.
Er glaubte an Gottes Plan, die Erde mit möglichst vielen glücklichen Lebewesen zu bevölkern. Jedes Lebewesen habe in diesem Plan seinen Platz. Daraus leitete er ab, dass der Mensch Pflichten gegenüber seinen Mitgeschöpfen hat. Aus diesen Pflichten ergeben sich folglich auch Rechte für Tiere.
Der Mensch dürfe Tiere zur Ernährung oder zum Schutz des eigenen Lebens töten. Er dürfe sie unter seine Kontrolle bringen und in einem gewissen Rahmen beherrschen. Als Gegenleistung für die Sorge des Menschen dürften Tiere zu Leistungen herangezogen werden, soweit es ihrer Natur und ihren Fähigkeiten entspricht. Tiere sollten jedoch möglichst schonend behandelt werden. Man solle ihnen so viel Freiheit, Freude und Lebensqualität lassen, wie möglich. Der Mensch solle für ihre Nahrung und Gesundheit sorgen und ihnen so wenig wie möglich das Gefühl geben, dass sie ihre Freiheit verloren haben. Es dürfe ihnen keine übermäßige oder unnatürliche Arbeit zugemutet werden. Wenn ein Tier getötet werden müsse, solle dies schnell und schmerzlos geschehen, damit es so wenig wie möglich darunter leidet.
Dietler fasste zusammen, dass es die Pflicht des Menschen sei, jedes seiner Mitgeschöpfe zu lieben, zu schonen und sein Glück zu fördern – selbst dann, wenn es sich um ein scheinbar unbedeutendes Wesen handelt. In der Natur gebe es kein Ungeziefer. So wie wir wünschen, dass höhere Wesen oder Gott uns schonen und unser Glück fördern, sollten wir mit den Tieren umgehen. Alle Geschöpfe stammen vom selben liebevollen Schöpfer und sind daher gleich, mit gleichen Rechten und gleichen Zielen.
Dieser Appell zeigte jedoch wenig Wirkung. Schon bald darauf begann die nächste Phase der Tierausbeutung. Die Zahl der sogenannten Nutztiere stieg stark an. Die Industrialisierung der Tierzucht und Tierhaltung brachte eine neue Dimension der Grausamkeit hervor, die sich ein Philosoph des 18. Jahrhunderts kaum hätte vorstellen können. Es hätte Wilhelm Dietler jedoch wohl gefreut zu wissen, dass seine Gedanken heute von der weltweiten Tierschutzbewegung und vielen Umweltaktivistinnen und -aktivisten geteilt werden.
Die Debatte über die Rechte der Natur und der Tiere ist heute wieder hochaktuell. Dieses Mal liefern ausgerechnet die Naturwissenschaften die schlagkräftigsten Argumente. Die Erkenntnisse darüber, dass Tiere denken und fühlen können, sind inzwischen unbestreitbar. Und der Mensch – das wird zunehmend erkannt – ist ebenfalls ein Tier, wenn auch ein besonders grausames.
Es ist nicht ausgeschlossen, dass Tiere in Zukunft durch juristische Beistände ihre Rechte vor Gericht einfordern können. Schon heute werden Flüsse in vielen Ländern als juristische Personen anerkannt. Eine grundlegende Neuausrichtung des Verhältnisses zwischen Mensch und Natur steht inzwischen auf der politischen und ethischen Agenda.
Quelle: Wilhelm Dietler, Gerechtigkeit gegen Thiere, Appell von 1787. Nachdruck von Asku Druck, 1997. ISBN 3-9300994-07-0.
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