Buchbesprechung

Zwischen Nichtwissen und Verbundenheit – Andreas Hetzels poetische Ethik der Biodiversität

von Helmut Scheel

Helmut Scheel liest das Buch Vielfalt achten von Andreas Hetzel. Hintergrund: Schmetterling auf farbigem Hintergrund. In einer Gedankenblase neben ihm stehen zentrale Begriffe der Buchbesprechung: Poesie als Erkenntnisweg, Mitwelt statt Umwelt, Staunen...

Vielfalt achten von Andreas Hetzel

Buchbesprechung von Helmut Scheel:

Andreas Hetzel beginnt sein umfangreiches Werk „Vielfalt achten“ mit einem Zitat des Stoikers Marc Aurel: „Siehst du nicht die Pflanzen, die Vögel, die Ameisen, die Spinnen, die das ihnen zugedachte Werk verrichten und für ihren Teil den Kosmos mitgestalten?“ Dieses Zitat führt uns direkt in das zentrale Thema des Buches ein, das Hetzel als „Eine Ethik der Biodiversität“ beschreibt.

Von Beginn an zeigt Hetzel eine feinfühlige Sprache, die seine tiefe Verbindung zur Natur widerspiegelt. Er erzählt von seiner Faszination für einen unscheinbaren Laufkäfer in seiner Jugend – ein Sinnbild für das Staunen angesichts des Nichtwissens, das eine zentrale Rolle in seiner Ethik der Biodiversität spielt. Hetzel identifiziert vier Arten des Nichtwissens: epistemisches, pragmatisches, metaethisches und ethisches Nichtwissen. Sie alle prägen unsere Beziehung zur Natur.

Ein zentrales Thema des Buches ist das Anthropozän, ein Zeitalter, in dem der Mensch zur dominierenden Kraft der Umweltveränderung geworden ist. Hetzel argumentiert, dass unsere Lebensweise Lebensräume zerstört und täglich bis zu 300 Arten ausrottet, von denen viele noch nicht einmal entdeckt wurden. Diese Zerstörung bedroht nicht nur andere Arten, sondern letztlich auch uns selbst. Er plädiert dafür, den anthropozentrischen Blickwinkel zu überwinden und die biotische Vielfalt als intrinsischen Wert anzuerkennen. Biodiversität macht Ökosysteme resilient, und unser Verhalten gleicht einem riskanten Spiel mit einem Jenga-Turm. Jedes Mal, wenn wir eine Art ausrotten oder einen Lebensraum zerstören, ziehen wir einen weiteren Stein aus dem Turm. Irgendwann wird der Turm instabil und stürzt ein. Anders als beim Spiel Jenga, bei dem der Verlierer einfach ein neues Spiel beginnen kann, haben wir keine zweite Chance. Wenn unser ökologischer Jenga-Turm einstürzt, verlieren wir alles: unsere Lebensgrundlage und die Zukunft unseres Planeten.

Hetzel zitiert Aldo Leopold, einen der Urväter der ökologischen Bewegung: „Das grundlegende Konzept der Ökologie besteht darin, dass das Land eine Gemeinschaft ist. Dass man das Land aber lieben und respektieren sollte, ist eine ethische Erweiterung.“ Es fordert uns auf, unsere Beziehung zur Natur grundlegend neu zu begreifen. Wir sind nicht von der Natur getrennt, sondern Teil von ihr. Unser Verständnis von Natur unterliegt einem stetigen Wandel.

Ein besonders eindrucksvolles Kapitel beginnt mit einem Zitat von Stéphane Mallarmé: „Die Natur findet statt, ihr bleibt nichts hinzuzufügen.“ Hetzel diskutiert die Grenzen der anthropozentrischen Umweltethik und plädiert für eine Integration der Umwelt in eine Mitwelt. Er betont die Bedeutung des Nichtwissens und die Notwendigkeit, die Unverfügbarkeit der Natur anzuerkennen – ein Konzept, das an Hartmut Rosa erinnert.

Ein zentrales Beispiel ist das Insektensterben, das durch die Krefelder Studie weit über Fachkreise hinaus ins öffentliche Bewusstsein rückte. Die Studie zeigt den dramatischen Rückgang der Insektenpopulationen und unterstreicht die Dringlichkeit, unser Handeln zu überdenken. Hetzel argumentiert, dass wir eine Ethik der Achtung benötigen, die das gesamte Leben auf unserem Planeten umfasst. Er zitiert Emmanuel Levinas: „Ethik ist die dem Sein angetragene Sorge um das Andere-als-man-selbst.“

Im letzten Kapitel diskutiert Hetzel „konviviale Lebensformen” und betont die gegenseitige Abhängigkeit aller Lebewesen. Wir müssen zusammen denken, weil wir zusammen leben. Diese tiefe Verbundenheit mit der Mitwelt wird in Hetzels Werk durch eine poetische und liebevolle Sprache vermittelt, die sowohl den Verstand als auch das Gefühl anspricht.

„Vielfalt achten“ ist ein poetisch geschriebenes Sachbuch – eine sachliche Liebeserklärung an unsere Mitwelt und ein eindringlicher Appell, unsere Beziehung zur Natur grundlegend zu überdenken.

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